PC DIREKT Oktober 1995
Mit freundlicher Genehmigung von Martin Goldmann
Es war eine lange und schwere Geburt. Immer wieder verschob Microsoft den
Start von Windows 95 alias Chicago alias Windows 4.0. Doch nun ist das neue
Betriebssystem auf dem Markt und muss zeigen, ob es die Erwartungen erfüllt.
Ein Aufatmen geht durch die EDV-Szene. Nach einer rund zweijährigen
Ankündigungs- und Betaphase kommt Windows 95 endlich auf den Markt. Damit hat es
fast den Verzögerungsrekord von Borlands dBase für Windows erreicht.
Wirklich einfach zu installieren ist Windows 95, wenn bereits ein gut
konfiguriertes Windows 3.1 oder 3.11 sein Werk auf dem PC verrichtet. Denn
wichtige Konfigurationsdaten wie den Interrupt der Sound- oder Netzwerkkarte
kann sich das Programm vom Vorgänger besorgen. Mit Plug & Play hat das noch
nicht viel zu tun. Von diesem Prinzip merkt man erst etwas bei der Installation
von PCI-Komponenten wie Grafikkarte oder SCSI-Controller. Viele alte
ISA-Komponenten erkennt Windows 95 zudem anhand einer Treiberdatenbank. In
keiner der Testinstallationen vefehlte Windows 95 sein Ziel: Immer wurde der
korrekte Grafiktreiber installiert – gleich ob es sich um eine alte
Trident-VGA-Karte, eine ATI-Xpression, eine Noname-S3-Karte oder um die
Matrox-Impression handelte. Auch bei den Controllern gab es keine Probleme. Bei
jedem Testgerät konnte Windows 95 im 32-Bit-Modus auf den Datenträger und seine
Files zugreifen. Wer vorher unter Windows 3.11 mit einer SCSI-Platte im
16-Bit-Zugriff gearbeitet hat, stößt unter Windows 95 in neue
Geschwindigkeitsdimensionen vor. Nur bei Syquest-Wechselplatten stolpert das
neue Windows manchmal: So wird beim Booten ein 270-MByte-SCSI-Syquest-Laufwerk,
das an einem NCR-C815-Adapter hängt, einmal als Wechselplatte und zusätzlich
einmal als normale Harddisk gemeldet. Eine Kopieraktion im Zusammenhang mit
einem der beiden gemeldeten Laufwerke führt dann zum sicheren Systemchrash – ein
Zeichen, dass Windows 95 doch nicht an allen Ecken so sicher ist, wie Microsoft
es gerne hätte.
Ob Steckkarte, Modem oder Drucker – das neue Betriebssystem bringt für praktisch
jede denkbare Komponente den passenden Treiber mit. Nur Scanner bleiben noch
außen vor. In solchen Fällen ist man auf DOS-Treiber angewiesen. Diese lassen
sich wie gewohnt in autoexec.bat und config.sys installieren. Dieses
Leistungsmerkmal verhilft auch Peripherie-Exoten zu einer Einbindung in Windows
95. 32-Bit-Treiber für Hewlett-Packard-Scanner sind übrigens laut HP in
Vorbereitung.
Die der Systemsteuerung hilft, die Konfiguration von Windows 95 zu überwachen
und zu modifizieren. Im Gerätemanager lassen sich Peripheriegeräte einstellen
und auf mögliche Konflikte überprüfen. Der Fehlersuche dienlich ist, dass
einzelne Komponenten aus der Systemkonfiguration ausgeschlossen werden dürfen.
Die Netzwerkanbindung unter Windows 95 zeigt sich vorbildlich. Die Protokolle
Netbeui, TCP/IP und IPX/SPX sind bereits im Lieferumfang zu finden. Umsteiger
von Windows für Workgroups 3.11 haben ebenso wenig Probleme mit der 95er-Fassung
wie Computer-Besitzer, die per TCP/IP oder Novell Netware kommunizieren wollen.
Bleibt der Speicherbedarf der Neuinstallation: Unter 40 MByte freien
Plattenspeicher braucht man gar nicht erst an ein neues Windows zu denken. Voll
installiert, mit ein paar Spielen, allen Multimedia-Treibern und sonstigem
Zubehör kommt Windows 95 an die 60-MByte-Grenze heran. Wohl dem, der über ein
1-GByte-Laufwerk verfügt.
Nach der Einrichtung sollte der erste Klick auf den Start-Button führen. Wozu
Microsoft diesen Knopf einführte, erschließt sich nicht. Vielleicht wollte der
Gigant aus Redmond wenigstens ein eigenständiges Element zur Benutzerführung
einbringen. Denn Drag & Drop, Ordner auf dem Desktop und Verknüpfungen kennt man
schon vom Macintosh oder OS/2.
Hinter Start/Programme verbergen sich die guten alten Programmgruppen und eine
schöne Bescherung. Denn Windows 95 konvertiert alle grp-Dateien, derer es
habhaft werden kann und bindet diese ins Startmenü ein. Dabei tauchen selbst
Programmgruppen wieder auf, die bereits zu Windows-3.0-Zeiten gelöscht wurden.
Ein unnötiger Arbeitsaufwand, diese wieder zu entfernen.
Der Start-Button jedoch ist nur ein Bestandteil der Taskleiste. Diese ständig in
Windows 95 präsente Leiste zeigt alle laufenden Anwendungen und geöffneten
Fenster. Per Mausklick wechselt der Anwender schnell und bequem in das
gewünschte Fenster. Rechts in der Taskleiste zeigt sich ein kleines Statusfeld.
Dieses informiert über Uhrzeit, eingesteckte PCMCIA-Karten oder den Zustand des
deutlich verbesserten Druckmanagers: Wartete der Manager unter Windows 3.11
immer, bis eine Datei komplett im Spooler war, so druckt die neue Fassung sofort
los, sobald Daten im Zwischenspeicher landen. Für Vielschreiber oder
Serienbriefversender ist das ein enormer Geschwindigkeitsgewinn. Der
Druckmanager ist auch dann aktiv und aufnahmebereit, wenn kein Drucker
angeschlossen ist. So dürfen mobile Computer-Besitzer jederzeit Dokumente an den
Manager senden. Sobald dann ein Printer angeschlossen ist, arbeitet Windows 95
alle anstehenden Aufträge ab.
Die Mine hellt sich weiter auf, wenn man bemerkt, dass die Trennung zwischen
Programm-Manager und Datei-Manager endlich aufgehoben wurde. Alle Elemente des
Desktops sind als Verzeichnisse definiert. Auch die Oberfläche selbst wird durch
ein Directory repräsentiert. Der Vorteil: Jedes Verzeichnis kann weitere
Directories aufnehmen. So lassen sich auch auf der Benutzeroberfläche selbst
Directories anlegen, die wie die alten Programmgruppen funktionieren. Doch
sinnvoll wird dieses Prinzip erst zusammen mit Verknüpfungen. Von jedem Programm
und jeder Datei lässt sich an beliebiger Stelle eine Verknüpfung anlegen.
Wichtige Programme etwa lassen sich als Verknüpfungen auf dem Desktop ablegen.
Hier eröffnen sich dem Windows-User neue Dimensionen der Datei- und
Programmverwaltung. Das Desktop lässt sich als Zwischenlager für Dateien oder
als Container für mehrere Dokumente eines Projektes nutzen, Unterverzeichnisse
auf der Festplatte lassen sich als Verknüpfung direkt per Desktop zugänglich
machen. Der Phantasie und den Prioritäten des Users sind kaum Grenzen gesetzt.
Möglich werden Verknüpfungen erst durch das konsequente Drag & Drop unter
Windows 95. Zieht man mit der Maus ein Programmicon auf die Oberfläche, so wird
automatisch eine Verknüpfung hergestellt. Genauso werden Files kopiert,
verschoben oder gelöscht. Für das Entfernen der Dateien steht der Papierkorb. Er
nimmt die gelöschten Files auf und speichert sie solange, bis er geleert wird.
Versehentlich gelöschte Dateien lassen sich so einfach wieder herstellen.
Allerdings funktioniert dies nur, solange Files unter Windows gelöscht werden.
Sobald Löschaktionen unter DOS stattfinden, landet der Datenmüll nicht im
Papierkorb. Das wäre an sich kein Problem, wenn das alte DOS-Utility Undelete
noch im Lieferumfang zu finden wäre. Doch das zu Windows gehörende MS-DOS 7.0
bietet kein Werkzeug zum Entlöschen der Dateien.
Überhaupt wurde DOS reichlich entspeckt. Nur noch die notwendigsten Dateien des
Betriebssystem-Relikts finden sich im Verzeichnis c:\windows\command. Warum
Microsoft hierfür den irreführenden Namen command statt dos gewählt hat, bleibt
offen.
Interessantester Bestandteil des Windows-DOS ist das neue xcopy, das nun auch
mit langen Dateinamen zurechtkommt und Files abhängig vom Herstellungsdatum
kopiert.
Einen Anlass zur Freude bietet die Aufhebung der 8+3-Namensgebung für Dateien.
Endlich dürfen Texte oder Tabellen so heißen, wie es sich der Verfasser wünscht.
Bis zu 255 Zeichen lassen sich theoretisch pro Filenamen vergeben. Diese
Namenserweiterungen dürfen allerdings nur Windows-95-Applikationen nutzen. DOS-
und Windows-3.x-Veteranen müssen sich weiterhin mit der alten Namenskonvention
herumschlagen. Aus Gründen der Kompatibilität zu seinen Vorgängern speichert
Windows 95 denn auch Dateien immer noch unter DOS-Dateinamen. Die langen
Bezeichnungen werden separat gelagert.
Bei vielen Programmen für Windows 3.x zeigte sich schon, wie nützlich die rechte
Maustaste ist. Mit der 95er-Fassung setzt sich das Prinzip auch auf
Betriebssystemebene durch. Wo immer der Windows-Freund die rechte Taste klickt,
erscheint ein kontextsensitives Menü mit allen Befehlen, die sich auf das
aktuelle Objekt, sei es eine Datei oder ein Verzeichnis anwenden lassen.
Um Dateien und Verzeichnisse aufzuspüren stellt Windows im Startmenü eine
umfassende Suchfunktion bereit. Das neue Werkzeug recherchiert nicht nur nach
Dateinamen und Erweiterungen. Auch Dateigröße, Herstellungsdatum oder
Textabschnitte aus dem File dienen als Suchkriterien. Recherchen lassen sich
über den kompletten Arbeitsplatz, inklusive aller installierten Netzlaufwerke
ausführen.
Den direkten Zugang zu den Laufwerken und deren Inhalt bringt der Explorer. Er
gilt als Nachfolger des Datei-Managers und bietet alle notwendigen Datei und
Verzeichnisoperationen. Im Gegensatz zum Vorgänger ist der Explorer jedoch nicht
in der Lage, zwei Verzeichnisfenster darzustellen. Wer wie in alten Tagen
Dateioperationen ausführen will, muss den Explorer zweimal öffnen. Auf kleinen
Bildschirmen führt das zu einem unübersichtlichen Explorer-Kuddelmuddel.
Der Explorer beschränkt sich nicht darauf, nur Laufwerke, Verzeichnisse und
Dateien zu zeigen. Neue Bestandteile wie Arbeitsplatz und Desktop sind
hinzugekommen. Allerdings erschließt sich diese neue Aufteilung nicht sofort:
Das Desktop dient als oberste Instanz und beherbergt die Netzwerkumgebung, den
Arbeitsplatz und den Papierkorb. Der Arbeitsplatz seinerseits fasst alle
Laufwerke und Verzeichnisse. Gerade Einsteigern erschließt sich diese Aufteilung
nicht sofort.
Schon bei der Markteinführung von Windows 3.0 prahlte Microsoft mit
Multitasking-Fähigkeiten. Dabei handelte es sich jedoch um ein nicht präemptives
Verfahren: Jede Anwendung durfte sich so viel Rechenzeit nehmen, wie sie wollte.
Unter Windows 95 wird das anders. Jetzt kümmert sich das Betriebssystem um die
Verteilung der Rechenleistung. Echtes Multitasking unter Windows 95 gibt es
allerdings erst mit den neuen 32-Bit-Applikationen. Im Gegensatz zu OS/2 Warp
haben sich alle namhaften Hersteller entschlossen, ihre Software auf das neue
System umzusetzen. Praktisch alle wichtigen Anwendungen sind oder werden gerade
für Windows 95 umgeschrieben.
Bester Beweis für das funktionierende Multitasking: Endlich lassen sich
Disketten auch im Hintergrund formatieren. Wer dies unter Windows 3.x einmal
versucht hat und derweilen ein Dokument bearbeiten wollte, zweifelte schnell an
der Leistungsfähigkeit seines Systems. DOS-Applikationen laufen nun ebenfalls
besser unter Windows 95. Hier wurden vor allem Probleme mit der
Speicherverwaltung behoben. Auch Programme, die den DOS-Extender Dos4gw nutzen,
das sind vor allem Spiele, verrichten klaglos ihren Dienst unter Windows. Im
Test fand sich kein Programm, das seinen Dienst unter Windows 95 verweigerte.
Zusätzlich spendierte Microsoft seinem Betriebssystem einen DOS-Modus, den man
separat booten kann. Microsoft räumt allerdings ein, dass es mit einigen
DOS-Programmen Kompatibilitätsprobleme gibt.
Windows für Notebooks
Notebook-Besitzern erleichtert Windows 95 ihr Dasein. So erscheint im Statusfeld
eine Batterieanzeige. Und das Betriebssystem warnt, sobald dem tragbaren
Computer der Saft ausgeht. Zudem unterstützt Windows 95 PCMCIA samt „hot
plugging". Im laufenden Betrieb darf man also Modem-, Netzwerk- oder sonstige
PCMCIA-Karten einstecken. Mit der Erkennung lässt sich Windows allerdings ein
wenig zu lange Zeit: Es kann schon eine halbe bis eine Minute vergehen, bis das
eben eingesteckte Modem erkannt wird. Für Notebooks und Computer mit begrenzten
Plattenspeicher bringt Windows 95 eine neue Version des Online-Komprimierers
Doublespace mit. Allerdings geht die Kompression gerade bei 386-Systemen
deutlich auf Kosten der Performance.
Dem Datenabgleich zwischen Notebook und Desktop-Rechner dient der Aktenkoffer.
Und für eine Verbindung zwischen beiden Geräten sorgt die Direktverbindung: Per
seriellem oder parallelen Kabel lassen sich zwei Computer miteinander verbinden.
Wie im Netzwerk kann der angebundene Rechner auf die Ressourcen des
Host-Computers zugreifen.
Windows 95 kommt nicht allein. Neben Systemutilities wie Doublespace, Defrag und
Scandisk kommen weitere nützliche Programme. Für Mail-Anbindung sorgt Microsoft
Exchange. Dabei bleibt der Windows-95-Nutzer nicht allein auf hausinterne
Nachrichten beschränkt, sondern darf auch per Compuserve oder Internet Messages
absetzen. Und den Faxverkehr wickelt Exchange ebenfalls ab.
Weiteren Kontakt zur Außenwelt bieten der mitgelieferte Amaris-Btx-Decoder und
das Terminalprogramm Hyperterminal. Dieses beherrscht nun endlich das flotte
Z-Modem-Protokoll zur Datenübertragung. Der Btx-Decoder erweist sich als
leistungsfähig, bietet jedoch keine KIT-Unterstützung.
Die beiden Windows-Standardapplikationen Paintbrush und Write sind ebenfalls
dabei. Unter dem Namen Wordpad bietet Microsoft grundlegende
Textverarbeitungsfunktionen im Winword-Look. Wordpad liest und schreibt Dateien
nun auch im Winword-6.0-Format. Paintbrush heißt jetzt Paint und kann sich
ebenfalls über einen erweiterten Funktionsumfang und bessere Bedienbarkeit
freuen. Lediglich bei den Dateiformaten hat Paint nichts hinzugelernt. Noch
immer bleibt der Maler auf PCX- und Bitmap-Dateien festgelegt.
Weitaus unterhaltsamer als Multitasking, PCMCIA und Wordpad gibt sich die multimediale Seite von Windows 95. Zum Abspielen eines AVI-Files reicht ein Doppelklick und Windows legt los. Ein separates Video für Windows muss also nicht mehr installiert werden. Mpeg- oder Quicktime-Videos bleiben allerdings weiter außen vor und müssen über separate Programme abgespielt werden. Musikfreunde werden sich über die automatische Erkennung von Musik-CDs freuen. Sobald ein Klangsilberling eingelegt wurde, startet der CD-Player von Windows 95 automatisch. Auch im Unterhaltungsbereich ist einiges zu erwarten. Durch neue Schnittstellen erlaubt Windows 95 Programmierern jetzt
Wenn Microsoft als Mindestvoraussetzung ein 386-DX mit 4 MByte RAM angibt, dann ist das schlicht Humbug. Zwar startet Windows 95 noch auf so einer Maschine. Aber Anwendungen wie Winword laufen in nicht akzeptabler Geschwindigkeit. Doch sollte man auch nicht blind den Auguren der Hardware-Branche glauben: Windows 95 stürzt nicht jeden in einen unbezahlbaren Aufrüstungsstrudel. Besitzer eines 386/33 mit 16 MByte und einer 300er-Festplatte können bereits halbwegs flott mit Windows 95 arbeiten. Ein Geschwindigkeitsgewinn gegenüber Windows 3.11 ist allerdings subjektiv nicht zu verzeichnen. Ein weiterer Testrechner mit einem auf 40 MHz getakteten 486er und 8 MByte RAM bot bereits ein angenehmes Arbeitstempo.
Windows 95 erweist sich zwar immer noch nicht als der erhoffte Durchbruch in
eine 32-Bit-Welt. Doch gegenüber der Vorversion zeigen sich deutliche
Fortschritte. Die einfache Bedienbarkeit sowie die weitgehend problemlose
Installation sind vorbildlich. Einige Macken übersieht man angesichts des
gewaltigen Sprungs in der Bedienerfreundlichkeit gerne.
Pluspunkte
- Einfache Bedienung
- Sehr einfache Installation
- Gute Unterstützung von DOS-Programmen
- Flexible Mail-Anbindung
- Gute Ausstattung
Minuspunkte
- noch kein reines 32-Bit-Betriebssystem
- hoher Platzbedarf
- hohe Hardware-Anforderungen
- undelete läuft nicht unter DOS
- keine Scannerunterstützung